Selber oder selbst?
Selber,
selber …
…
lachen alle Kälber, heißt es im Kinderreim. Einen
entsprechenden Vers mit
„selbst“ gibt es nicht. Was ist nun aber grammatikalisch richtig, was
stilistisch angemessen?
Heißt
es „Das müssen Sie schon selbst wissen“ oder „Das müssen Sie
schon selber wissen“?
Der
Duden gibt darauf eine klare Antwort: Zulässig sind beide
Varianten, „selber“
ist indessen umgangssprachlich.
Nun
ist der Duden entgegen einer weit verbreiteten Meinung keineswegs
maßgeblich in
allen Zweifelsfragen; diesen alten Werbeslogan benutzt das Unternehmen
nicht
mehr. Immerhin scheint der Kinderreim zur Auffassung zu passen, dass
„selber“
ein umgangssprachlicher Ausdruck ist. Entsprechend hätte jemand
Recht, der diesen
Ausdruck in einem wissenschaftlichen Aufsatz als Ausdrucksfehler
moniert, jedenfalls
sofern man davon ausgeht, dass Umgangssprache nicht in
wissenschaftliche Texte
gehört.
Was
aber ist von einer Gedichtzeile wie dieser zu halten:
Sie
liebten sich beide […]
und
wussten es selber kaum.
Sie
stammt aus der Feder von Heinrich Heine. Nun scheute Heine keineswegs
davor
zurück, Umgangssprache zu benutzen, wenn ihm dies angemessen
schien. Sie dient
ihm als eines seiner Verfahren, um Ironie auszudrücken. Aber wirkt
die
Schlusszeile, insbesondere das „selber“, wirklich umgangssprachlich?
Die
(zweifellos vorhandene) Ironie der Zeile scheint sich doch eher aus dem
Inhalt
herzuleiten.
Selbstverständlich
hätte die Verwendung von „selbst“ zu einer Veränderung des
Versfußes geführt.
Die Vertonung des Gedichtes durch Clara Schumann (eines ihrer besten
Werke)
wäre so, in ihrer hochromantischen Weise, nicht möglich
gewesen.
Indessen
war Heine selbst (oder selber) bekanntlich ein „entlaufener Romantiker“
und
setzt nicht zuletzt Sprünge im Vers systematisch ein, um gerade
das Romantisch-Liedhafte
zu konterkarieren. Bekanntestes Beispiel ist das „Märchen aus
alten Zeiten“,
das vom Komponisten Silcher bei der bis heute populären Vertonung
kurzerhand zu
„uralten“ umgedichtet wurde, um es in den Takt zu pressen.
Lösen
lässt sich die Frage am ehesten, wenn man von der historischen
Entwicklung
ausgeht. Noch Luther benutzt die Begriffe „selbst“ und „selber“
unterschiedslos. Der Weg des „selber“ in die Umgangssprache ist eine
moderne
Entwicklung.
Diese
moderne Entwicklung ist jedoch durchaus nicht abgeschlossen und gewiss
nicht
unumkehrbar. Die schwindende Autorität präskriptiver
(vorschreibender) Grammatiken
und die Vermischung der Umgangssprache mit der Hochsprache, wie sie vor
allem
im Internet zu beobachten ist, könnten die stilistische
Unterscheidung zwischen
„selber“ und „selbst“, die ohnehin vielen – auch gut ausgebildeten –
Menschen
nicht geläufig ist, wieder verwischen.
Vielleicht
liegt die Abgrenzung ursprünglich gar im allseits bekannten
Kinderreim begründet?
Gäbe es eine Entsprechung mit „selbst“, wäre die
Unterscheidung Umgangssprache
– Hochsprache in diesem Fall offensichtlich albern. Dass ein solcher
Vers nicht
existiert, liegt wahrscheinlich weniger daran, dass der Ausdruck
„selbst“ zu
hochgestochen für Kinder ist. Er passt bloß schlechter in
das fließende
Versmaß, das Kinder (und Romantiker) so lieben.
Nachbemerkung: Auch Horkheimer/Adorno verwenden beide Ausdrücke.
dm
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